Die Jungs von BioWare kommen nach ihrem Weihnachtshit Dragon Age nun mit dem heiß ersehnten Nachfolger zu einem der besten Spiele des Jahres 2007. Dieses attestierte den Kanadiern schon damals, dass sie auch ohne schlagkräftige Lizenzen wie „Star Wars“ glaubhafte und authentische Sci-Fi Universen erschaffen können. Wir haben für euch unseren alten Commander Shepard in Form eines Savegames aus Teil Eins wiederbelebt und testen ob BioWare der Schaffung eines würdigen Nachfolgers gerecht geworden ist.
Das Spiel setzt zwei Jahre nach Ende des ersten Teils ein. Shepard erwacht auf einer Forschungsstation, die unter Leitung der mysteriösen Geheimgruppe Cerberus steht. Er muss feststellen, dass er nach Absturz seines alten Raumschiffes Normandy über einen Zeitraum von zwei Jahren mit Hilfe von Biokenetik wieder „zusammengeflickt“ wurde und es stellt sich schnell heraus, dass das Labor, sowie die gesamte Raumstation nur mit dem Gedanken an die Rettung und Regenerierung Shepards erbaut wurden. Doch keinen Gefallen ohne Hintergedanken: „Der Unbekannte“, seines Zeichens Chef von Cerberus, teilt dem Commander schnell mit, dass es an ihm liegen würde, eine anstehende Bedrohung der Menschheit durch eine Alienrasse Namens Kollektoren zu vereiteln. Dabei sind die Gründe aus denen jene Geheimgesellschaft den Kampf der Menschen gegen die Aliens unterstützt jedoch anfänglich nicht wirklich zu durchschauen, hat sich die Gruppe doch schon im ersten Teil eher zwielichtiger Forschung verschrieben und zweifelhafter Methoden bedient.
Die nun beginnende Story ist völlig neu und schließt nur lose an die Geschehnisse des ersten Teils an. Durch den geschickten Handlungskniff der zweijährigen Abstinenz wird Shepards Spektorstatus (er war im ersten Teil eine Art Weltraummarshall) und seine im Vorgänger erworbenen Talente über Bord bzw. aus dem Spiel geworfen. Der Spieler befindet sich nach Flucht von der Raumstation (diese wird im Tutorial überfallen) nun auf einem Nachbau seines alten Raumschiffes in Form einer Normandy 2 und hat die Möglichkeit, das Mass-Effect-Universum erneut zu erkunden.
Den Fans der Serie sei aber verraten, dass, um den Titel eines Nachfolgers gerecht zu werden, während des Spiels konsequent an verschiedenen Nebenhandlungssträngen des ersten Teils angeknüpft wird. So kann sich der Spieler über das Auftauchen einiger alten Bekannten freuen, die mehr oder weniger nun auch im zweiten Teil eine Rolle übernehmen.
Dazu trägt auch der tolle Charakterimport aus Teil Eins bei. Die Schlüsselereignisse aus dem Vorgänger werden konsequent übernommen. Diese beeinflussen zwar nicht den Storyverlauf, wirken sich jedoch auf einige Gespräche und Zusammentreffen aus. Falls kein Speicherstand vorhanden ist, kann der Spieler durch Beantwortung von geschickt in die Handlung integrierten Fragen einen ähnlichen Background für Shepard erschaffen.
Die große Stärke von Mass Effect 2 liegt im Erzählen, das dramaturgisch, wie bereits im ersten Teil, auf einem sehr hohen Niveau stattfindet. Das Spiel gibt sich dabei ganz wie ein Rollenspiel und beeindruckt durch eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten und die gewohnte Freiheit bei Fragen und Antworten. Mass Effect lädt den Spieler förmlich ein, nach Beendigung ein weiteres Mal in die Rolle Shepards zu schlüpfen, nur um so beispielsweise andere Antworten geben und damit teilweise andere Entscheidungen treffen zu können. Vielleicht hilft man in diesem Durchgang in einem Quest nicht einfach selbstlos, sondern erpresst zusätzlich ein paar Credits. Durch das System von Gut und Böse gibt es eine enorme Abwechslung in allen Aufträgen, da die Moral des Spielers Auswirkungen auf das Verhalten der NPC und der Partymitglieder hat. Die Aufträge verlaufen anfänglich gleich, wobei im späteren Spielverlauf je nach Gesinnung noch einige Überraschungen zu erwarten sind.
Die Grafik des Spiels wird in einer 3rd-Person-Perspektive präsentiert. Beim Erkunden der Welten und in den Actionsequenzen sieht man Shepard stets vor sich laufen. In den Gesprächen zoomt die Kamera sehr dynamisch an die Konversationspartner heran und zeigt diese in Nahaufnahme, in der die Charaktere fast wirklichkeitsgetreue Gesichtsbewegungen aufzeigen. Auch die zwischenzeitlich auftretenden Filmsequenzen in Spielgrafik wissen zu gefallen und machen das ganze Erlebnis Hollywood-verdächtig. Gespräche, Actionsequenzen und Erkundungen flimmern alle in einer solchen, in sich einheitlich daherkommenden, Grafik über den Bildschirm, dass der Spieler sich wie in einem interaktiven Film fühlt, kann er doch in diesem Filmguss selbst Einfluss auf jegliche Spielelemente nehmen.
Technisch gesehen basiert das Spiel dabei auf der Unreal-3-Engine. Die Grafik wurde im Vergleich zum Vorgänger verbessert und kann trotz ihres Alters noch vollends überzeugen. Leider wird aber Aufgrund des Designs der Engine (eigtl. für Ego-Shooter) die komplette Welt immer in einer Art Röhrenform dargestellt, die an vielen Stellen durch künstliche Barrieren einfach nicht zugänglich ist. Gut gemachte Hintergründe und entfernte 3D-Modelle, welche eine Art Weite vorspielen, können manchmal nicht über den sehr linearen Levelaufbau hinwegtäuschen. Dies tut aber letztendlich nichts zur Sache, da das verfolgte Konzept von übersichtlichen und einfach zu durchlaufenden Welten durch diese Levelstruktur perfekt aufgeht. Auf diese Weise bleibt langes Suchen von Quest-Items meist aus und Wege von A nach B sind relativ kurz, was zur Folge hat, dass die Geschichte in einem guten Tempo vorangetrieben wird und so nie langweilig wird.
Die eingestreuten Actionsequenzen sind ebenso gradlinig und gehen nach dem simplen Prinzip „Deckung, Feuern, Deckung wechseln“ von statten, machen aber durch abwechselnde Gegner mit verschiedenen Kräften und Fähigkeiten Laune.
So linear das Spiel auch im Detail, also in den Levels, sein mag, umso freizügiger ist es im großen Ganzen. Mit der Normandy fliegt man sich zwischen den Missionen auf einer Weltraumkarte von Planet zu Planet und kann dabei meist frei zwischen mehreren ausstehenden Aufträgen auswählen. Die Reheinfolge ist hierbei egal und zwischenzeitlich können in einem Art Minispiel unbewohnte Planeten auf Mineralien untersucht werden, die die Basis für spätere Upgrades bilden. Shepard hat also einiges zu tun; wann und ob, und aus welchen moralischen Gründen, das bestimmt der Spieler.
Kennern des ersten Teils wird schnell auffallen, dass das Spiel in der Bedienung nun einfacher handhabbar ist. So wurde das ganze Inventar ausgemistet und Waffen können nur noch in Form von zu erforschenden Upgrades verbessert werden, wobei die dafür benötigten Pläne bei Händlern gekauft oder in den Levels gefunden werden müssen. Neue Waffen entwickelt man entweder in der Prototypenforschung oder findet sie in den Levels. Jede erforschte oder gefundene Waffe kann dabei von beliebig vielen Teammitgliedern ausgewählt werden. Die einzige Voraussetzung dabei ist, dass der Charakter auf Grund seiner Klasse die Waffe auch benutzen kann. Damit erübrigt sich die in Rollenspielen typische Aufgabe des Inventarhaushaltens, da es nicht wirklich „einzelne“ Waffen gibt, sondern diese jeweils für alle zu Verfügung stehen.
Auch das Charaktersystem wurde stark vereinfacht und von ehemals 12 verschiedenen Attributen haben nur sechs (später ein siebtes) überlebt, deren Aufleveln sehr rudimentär in vier Stufen ausgefallen ist. Das System kann es in Bezug auf Detailverliebtheit nicht mit einem ernsthaften Rollenspielsystem aufnehmen, da mit Beendigung des Spiels auch alle Attribute voll ausgebaut sind und Shepard und Co. quasi keine Schwächen im Charakterausbau aufweisen. Die Charakteraufstufungen erhält der Spieler im neuen Teil zwar auch auf Basis von gesammelten Erfahrungspunkten, jedoch prinzipiell nur nach Abschluss eines Auftrags. Weiterhin kann die Vergabe der Punkte nur zu bestimmten Zeiten vorgenommen werden.
Die Entschlackung des gesamten Systems hat dem Spiel sehr viel an Zugänglichkeit eingebracht und so können sich auch Shooterfans ohne Rollenspielambitionen oder Genreneulinge schnell und gut zurechtfinden, da wenig Wert auf optimale Charaktereigenschaften oder Balance der Fähigkeiten gelegt werden muss.
Fans des ersten Teils oder Anhänger anderer BioWare-Spiele wie „Knights of the Old Republic“ oder „Dragon Age“ fühlen sich jedoch erst einmal unwohl und vermissen das liebevolle Individualisieren ihrer Lieblingscharaktere. Die Auswahl der Party nach Kriterien wie Stärke, Klasse und Waffen ist für das Spielerlebnis nicht besonders wichtig, da alle Charaktere zumindest auf den ersten drei Schwierigkeitsstufen sehr stark sind und die Kämpfe eher weniger Taktik als teilweise stures „Geballer“ erfordern. Der Spieler kann zwar sehr komfortabel im pausierten Modus seinen Mitstreitern Befehle geben, jedoch verhalten sich diese auch autonom relativ intelligent, können gut austeilen und dabei alleine auf sich aufpassen. Den Einsatz ihrer Spezialfähigkeiten wie Kinetik wählen die Teammitglieder meist relativ intelligent.
BioWare hat im Bereich der SciFi-Rollenspiele erneut ein Meisterwerk geschaffen, welches an Stimmigkeit und Präsentation seines Gleichen sucht und wahrscheinlich erst durch den jetzt schon angekündigten Nachfolger (Mass Effect ist als Trilogie geplant) vom Thron gestoßen werden wird. Kritiker werden dem Spiel zwar mangelnde Tiefe in Bezug auf klassische Rollenspielelemente vorwerfen, können aber nicht leugnen, dass die vereinfachte Spielbarkeit den gesamten Spielfluss und das „Film“-Erlebniss im Vergleich zu Teil Eins noch verbessert hat. Mass Effect 2 ist ein würdiger Nachfolger, der jedem, der eine gut erzählte Geschichte zu schätzen weiß, genau eine solche vorsetzt. Es ist ein kleines, mit 50 Stunden Spielzeit aber durchaus langes, Meisterwerk, welches jedem Videospieler ans Herz gelegt sei, egal welcher Genrefraktion er angehört. Die einzige Bedingung ist, sich anfänglich auf das Spiel einzulassen – die sich dann entwickelnde Story wird ihr Übriges tun, um den Spieler bis zum Schluss vor dem heimischen Fernseher zu fesseln.
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